Indien im Unterricht – eine Übung in multiperspektivischem Denken
07.07.2017
Prof. Dr. Cherian Kurian, emeritierter Professor für Literatur am Madras Christian College in Chennai (Südindien) besuchte in der vergangenen Woche wieder mehrere Oberstufenkurse (EF / Q1) unserer Schule. In Englisch-Lks sprach er über “Post-colonial India and Globalisation“ und in einigen Kursen in Religion / Praktische Philosophie über das Thema “Hinduism – a World Religion“. Er gab den Schüler/innen (und Lehrer/inne/n) ausreichend Möglichkeit, eigene Fragen zu stellen, z.B. zum Kastensystem, zu Gott und Gottheiten, zu den ‚heiligen‘ Kühen und vieles andere mehr. Seine Thesen waren teilweise überraschend und regten die Zuhörenden zur Diskussion, auf jeden Fall zum Nachdenken an. Den Schüler/innen wurde deutlich, dass Indien ein Land – oder besser: ein Kontinent – der Paradoxien und vielen Wahrheiten ist.
Einerseits ist das Kastenbewusstsein in Indien sehr weit verbreitet, die Zugehörigkeit zu einer Kaste wird oftmals als wichtiger angesehen als die Zugehörigkeit zu einer Religion. Andererseits spielt die Kastenzugehörigkeit in großen Ballungszentren wie Neu Delhi, Calcutta oder Mumbai meist keine große Rolle, und staatliche Unterstützungsprogramme ermöglichen zusätzlich die ‚vertikale Mobilität‘.
Einerseits ist Indien Land unzähliger Götter („Inkarnationen“ der drei Hauptgötter) und Verehrungsweisen, andererseits sieht der Hindu hinter all diesen Erscheinungsformen eine Absolute ‚göttliche‘ Realität.
Einerseits stehen auch Inder für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen ein. Andererseits ist es für sie eine Selbstverständlichkeit, dass Männer und Frauen unterschiedliche Aufgaben haben. Unsere westliche Formen der Gleichberechtigung seien nur in einer reichen Gesellschaft möglich, in einer armen Gesellschaft, wie insbesondere dem ländlichen Raum Indiens und den Peripherien der Megastädte, sei es dagegen überlebenswichtig, dass Männer und Frauen ihre geschlechtsspezifischen, meist traditionellen Aufgaben erfüllten.
„Wenn 10 Deutsche zusammen diskutieren, gibt es zwei oder drei Meinungen zu einem Thema; wenn 10 Inder zusammen diskutieren, gibt es schon mal 11 Meinungen zu einem Thema.“ Mit dieser zugespitzten Aussage brachte er die Eigenart seiner Landsleute, die Vielfalt ihres Landes zu verstehen und verschiedene Perspektiven einzunehmen, auf den Punkt, bzw. auf die Schippe.
Nach den wichtigsten Unterschieden zwischen Indien und Deutschland gefragt, nannte Dr. Kurian vor allem zwei Aspekte: Für ihn sei Deutschland, wie auch andere Länder Europas, vorzugsweise materiell orientiert, wohingegen Indien mehr Raum für religiöse bzw. spirituelle Sinnsuche böte. Des Weiteren ist für ihn Deutschland ein Land, das von “order“, von Strukturen und Ordnungen, geprägt sei, wohingegen in Indien ein Land oftmals überbordendem, chaotischem “life“ sei, was sich z.B. im Straßenverkehr oder im Handel zeige.
Obwohl Dr. Kurian englisch sprach (seiner Muttersprache), waren die Schüler/innen und Lehrer/innen waren durchweg begeistert von seinen Vorträgen, die durch Humor, Lebendigkeit und tiefes Sachwissen geprägt waren. Für den einen oder die andere waren diese Vorträge sicherlich ein ganz besonderes Highlight in diesem Schuljahr. (AK)